Aniela Naphtali kommt am 16. Mai 1900 in Breslau als Tochter des Kaufmanns Hugo Naphtali und seiner Ehefrau Olga, geborene Bielski, zur Welt. Sie wächst in der Kleinburgstraße 7 (heute: Wrocław, ulica Januszowicka 7) in einem zur Elite der Breslauer Kunst- und Kulturwelt gehörenden Elternhaus auf. Das Ehepaar Naphtali besitzt eine bedeutende Kunstsammlung mit Werken des Realismus und Impressionismus von Gustave Courbet, Anselm Feuerbach, Wilhelm Leibl, Camille Pissarro, Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt. Der Vater ist Mitglied der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur, des bedeutendsten Bildungs- und Forschungsinstitutes von Schlesien, das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts weltweiten Wissensaustausch pflegte und eine umfangreiche wissenschaftliche Bibliothek besaß.
Aniela absolviert das Lyzeum und ist ab 1920 in München gemeldet, wo sie sich 1920/21 an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität einschreibt. Sie studiert sieben Semester Kunstgeschichte,
Philosophie und Literatur. Am 1. Januar 1922 heiratet die 21-jährige Aniela den 43-jährigen Kunsthändler Georg Eugen Caspari.
Georg Eugen Caspari kommt am 20. Juni 1878 als Sohn von Paul Caspari (1841 bis 1923) und Elise Caspari, geborene Simon (1859 bis 1919), in Berlin zur Welt. Er hat noch eine zwei Jahre jüngere
Schwester, Sophie Charlotte, geboren am 26. Juli 1880, die später Otto Neuhaus (1874 – 1958) aus Hannover heiratet, mit ihm drei Kinder bekommt, mit der ganzen Familie nach England fliehen kann
und – so der Ermordung durch die NS-Schergen entgangen - 1960 mit 80 Jahren stirbt.
Georg Caspari war in Berlin Mitbesitzer der auf zeitgenössische Kunst spezialisierten Galerie Fritz Gurlitt, bevor er am 20. Juni 1913 seine Münchner Galerie im vornehmen Palais Eichthal in der
Briennerstraße 52 eröffnet, direkt gegenüber dem Café Luitpold. In diesem von Leo von Klenze erbauten Stadtpalais ist, nach der Heirat von Georg und Aniela Caspari 1922, auf den polizeilichen
Meldebögen ab 1923 auch der Wohnsitz der Familie amtlich eingetragen. Es ist anzunehmen, dass Georg Caspari schon vorher hier wohnte.
Georg Caspari präsentierte in den großen Ausstellungs-Sälen im Erdgeschoß alte Meister des Früh- und des Spätbarock (Johannes Rottenhammer, Franz Anton Maulbertsch), Werke des 19. Jahrhunderts
von Hans Thoma, Anselm Feuerbach, Wilhelm Leibl, Arnold Böcklin, und Wegbereiter der Moderne sowie Gegenwartskunst (Edouard Manet, Vincent van Gogh, Wilhelm Trübner, Max Liebermann,
Pierre-Auguste Renoir, Paul Klee, Oskar Kokoschka und Pablo Picasso). Im Jahr 1928 hatte Gerhart Frankl aus Wien, der 1938 nach England emigrierte, hier eine seiner ersten großen
Ausstellungen.
Die Kunsthandlung mit dem Schwerpunkt Malerei des 19. Jahrhunderts und der Moderne bot dem kulturell interessierten Publikum neben Ausstellungen auch regelmäßig Dichterlesungen, an denen sich
neben Franz Werfel, Frank Wedekind auch Heinrich und Thomas Mann beteiligten. 1914 beispielsweise hatte Thomas Mann dort aus dem „Zauberberg“ gelesen. Hugo Ball dichtete 1914: „Morgen wird man
die Sonne auf einen großrädrigen Wagen laden / Und in die Kunsthandlung Caspari fahren“. Es ranken sich auch Anekdoten über Berühmtheiten wie Rilke um das Kunsthaus, der sich unter anderem mit
der Tänzerin Clotilde von Derp dort verabredete. Er sei „morgen um elf bei Caspari im Kunstsalon“ schrieb er an sie im Juli 1915. Caspari habe ihm geschrieben, „… es sei ein schöner Picasso da,
der bisher in norddeutschem Privatbesitz sich versteckt gehalten hatte.“ Rilke hatte das Genie des jungen Picasso erkannt und versuchte, ihn zu fördern und bekannt zu machen, wo er nur konnte.
Georg Caspari wird zu den führenden Kunsthändlern des deutschen Kunstmarktes gezählt und steht dem Renommee von Paul Cassirer oder Paul Graupe in Berlin oder der Galerie Commeter in Hamburg in
nichts nach.
Dem Ehepaar Caspari werden zwei Söhne geboren, Paul Ernst Hugo am 23. Dezember 1922 und Ernst Karl Ludwig am 14. Mai 1926. Anielas Ehemann, Georg Caspari, kommt acht Jahre nach der Eheschließung
am 6. Juni 1930 im Alter von 52 Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Die Söhne sind sieben und vier Jahre alt. Ihre Galerie bleibt – wenn auch von den neuen Machthabern nicht unbehelligt
- bis 1935 in der Briennerstraße 52 situiert, wo sich auch die Wohnung der Familie befindet.
Aniela, in amtlichen Unterlagen Anna Caspari genannt, übernimmt also die Galerie ihres Mannes. Sie arbeitet auch und ab 1933 vorwiegend als Vermittlerin und Gutachterin für renommierte
Kunsthändler des „Dritten Reiches“, Julius Böhler und Karl Haberstock in Berlin, die beide keine unerhebliche Rolle in der NS-Kunstpolitik spielen. Haberstock ist dann auch Mitglied in der
„Kommission zur Verwertung der Produkte entarteter Kunst“ sowie bei der Sichtung und Katalogisierung beschlagnahmten jüdischen Besitzes beteiligt. Böhler profitiert vor allem von Notverkäufen
jüdischer Sammler, zum Beispiel von Alfred Pringsheim.
Aniela Caspari kann sich nach der so genannten“ Gleichschaltung“ des Bundes Deutscher Kunst- und Antiquitätenhändler e.V. 1933 mit dem entsprechenden „Arierparagraphen“ und nach der
Verabschiedung des Gesetzes über das Versteigerungsgewerbe vom 16. Oktober 1934 ihre Arbeit nicht aussuchen; sie muss ihre zwei Söhne und sich auf irgendeine Weise wirtschaftlich durchbringen.
Das Rundschreiben des Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste im August 1935 ist eine Zäsur im Fortgang der wirtschaftlichen Ausgrenzung jüdischer Bürger und kann – die
Formulierungen sind bezeichnend - als erste systematische ‚Säuberung‘ des Münchner Kunsthandels von ‚nichtarischen‘ Händlern gelten. Der dramatische Abbau des jüdischen Kunsthandels innerhalb
weniger Wochen ist die Folge.
Seit 1935 bestimmt die Reichskammer der Bildenden Künste in Berlin mit ihrer Landesleitung in München das gesamte deutsche Kunsthandels- und Antiquariatsgewerbe. Die Nürnberger Gesetze von 1935
folgen. In diesem Jahr wird die Galerie von Aniela Caspari in die Ottostraße 6 verlegt; ein Lager verbleibt in der Briennerstraße. In der Ottostraße 6 bewohnt Aniela ab April 1935 mit ihren
Söhnen zwei Räume im Hotel Continental. Von dort aus betreibt sie „hauptsächlich Verkaufsvermittlung für Kunstkäufe“ und bestreitet „den Lebensunterhalt im Wesentlichen aus ihrem Vermögen“.
Im Februar 1936 erfolgt der „Ausschluss jüdischer Kunsthändler aus der Reichskulturkammer“. 1937 wird vom Münchner Gewerbeamt das „Verzeichnis jüdischer Gewerbetreibender“ verfasst, die Vorstufe
zum Verbot für jüdische Münchner, überhaupt ein Gewerbe zu betreiben. Das „Gesetz über die Enteignung von Erzeugnissen ‚entarteter Kunst‘“ im Mai 1938 zwingt viele, auch Aniela Caspari, zu
Notverkäufen unter der Hand.
Sohn Paul kann als 16-Jähriger im März 1938 nach England ausreisen. Auch der 13-jährige Sohn Ernst kann nach England in Sicherheit gebracht werden. Aniela bemüht sich ebenso ab Ende 1938, zu
ihren Söhnen zu gelangen, welche in der Nähe von London ein Internat besuchen. Doch alle Emigrationsbemühungen schlagen fehl; ihre Anträge werden von den NS-Stellen abgelehnt.
Nun geht es Schlag auf Schlag, als wären die den Alltag vergällenden Diskriminierungen, die antijüdischen Gesetze und Verordnungen, die wirtschaftlichen Repressionen noch nicht genug gewesen. Die
wirtschaftliche Existenzvernichtung der jüdischen Münchner treibt auf einen Zustand zu, der noch Schlimmeres befürchten lässt.
Aniela Caspari muss wegen des Verdachts auf ein angebliches Devisenvergehen vom 12. bis 13. Dezember 1938 in Haft verbringen. Die Galerie Caspari wird am 3. Januar 1939 abgemeldet; im Februar
erfolgt die Löschung im Handelsregister. Noch am 31. Januar hatte das Bayerische Wirtschaftsministerium verfügt, dass es sich „die Entjudung folgender Betriebe kulturwirtschaftlicher Art
vorbehalte, sofern sie nicht inzwischen schon in arische Hände übergegangen“ seien: „Kunsthandlung Caspari (Inhaber Anna Caspari), Kunsthandlung Heinemann, Kunsthandlung Helbing, Kunsthandlung
Straßberger“.
Die Entscheidung ist aber längst getroffen: Dem beispiellosen Raubzug der Gestapoleitstelle München zum Jahreswechsel 1938/1939 bei jüdischen Münchner Familien fällt auch der Besitz von Aniela
Caspari zum Opfer. Während der „Aktion“, zynisch als „Sicherstellung von Kulturgütern“ bezeichnet, wird am 19. Januar 1939 von der Gestapo, begleitet von einem Kriminalsekretär, einem
Sachverständigen und einem Schätzer sowohl Aniela Casparis Wohnsitz im Hotel Continental in der Ottostraße als auch das Lager in der Briennerstraße durchsucht. Insgesamt werden dabei 22 Gemälde,
darunter ein Porträt von Lovis Corinth, 140 Bücher sowie eine nicht bekannte Anzahl Graphiken geraubt. Die Gemälde und Graphiken werden in den Bestand des Bayerischen Nationalmuseums und der
Staatlichen Graphischen Sammlung geschafft.
Beteiligt am Raub ist auch die Bayerische Staatsbibliothek, die für die etwas später erfolgte „Beschlagnahmung“ der Bücher einen ihrer Bibliothekare als fachmännischen Schätzer zur Verfügung
stellt. Der komplette Buchbestand geht als „Schenkung“ an die Staatsbibliothek.
Die Wohnung in der Ottostraße muss Aniela Caspari im März 1939 räumen und zieht zwangsweise in die Muffatstraße 11, 2. Stock, in Schwabing. Das Haus hatte Berta und Max Schwager gehört, die mit
ihrer Familie aus Cham in die Großstadt München gezogen waren, wohl weil sie den Schutz der großstädtischen Anonymität suchten. Gezwungenermaßen hatten sie ihr Haus in der Muffatstraße 11 nach
der „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom April 1938 verkauft, noch vor der „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“ vom Dezember 1938, die die Verfügungsgewalt
völlig unterbunden hätte. Sie sind fortan gezwungen, in ihrem ehemals eigenen Haus in drangvoller Enge zusammen mit vielen einander fremden Schicksalsgenossen zu leben.
Dies ist auch die letzte Station von Aniela Caspari, die hier noch zweieinhalb Jahre verbringt, bevor sie vom Milbertshofener Bahnhof aus mit dem Zug in den Tod fährt. Am 20. November 1941 wird
Aniela Anna Caspari mit der ersten Massendeportation von Münchner Jüdinnen und Juden in das von NS-Deutschland besetzte Litauen deportiert und am 25. November im Alter von 41 Jahren in Kaunas
ermordet.
Aniela Casparis Mutter, Olga Naphtali, geborene Bielski, wird am 2. September 1942 von Berlin ins Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie am 18. März 1943 im Alter von 69 Jahren zu Tode kommt.
Aniela Casparis Sohn, Paul Caspari, stirbt am 12. März 2016 im Alter von über 93 Jahren in Stanmore, Middlesex. Sohn Ernst (Ernest) lebt 2016 in Newham, Gloucestershire. Beide Söhne haben
Familie.
Bilder berühmter Maler aus dem Besitz der Familie Caspari geistern auch heutzutage immer einmal wieder durch die Medien, so etwa im Jahr 2006 eine von Kokoschka 1926 gemalte Ansicht des
Brandenburger Tors, die Aniela Caspari 1933 oder 1934 an die Dresdner Bank verkauft hatte.
Ein Bericht über das so genannte„ Wiedergutmachungsverfahren zugunsten der Söhne von Anna Caspari“ nach 1945 wäre ein weiteres, aber zu umfängliches Kapitel. Deshalb soll lediglich mit einer,
aber für die Nachkriegsgeschichte typischen Episode die Biografie von Aniela Anna Caspari beschlossen werden. Abgesehen von allem anderen Erlittenen war neben dem Verlust des gesamten Vermögens,
dem wertvollen Bildbestand, auch die Einbuße der kostbaren Bibliothek des Ehepaars Caspari Gegenstand des Verfahrens.
Im Jahr 1948 erhielten Paul und Ernst Caspari u.a. eine (geringe) Ausgleichszahlung des Landes Bayern für die geraubten Bücher, die in der Bayerischen Staatsbibliothek nicht mehr aufzufinden
waren. Man vermutete, sie seien in einem bestimmten Saal, der im Krieg in einer Bombennacht ausgebrannt war, mit zerstört worden. 50 Jahre später wurden, im Zuge der Suche nach NS-Raubgut
ab 2003, von der Bayerischen Staatsbibliothek doch vier Bücher gefunden, die zweifelsfrei von der Gestapo an die Bibliothek übergeben worden waren und sich dem Besitz von Aniela Caspari zuordnen
ließen. Sie wurden – „nach Abschluss der Recherchen“, wie es hieß – fast 70 Jahre nach Kriegsende, am 28. November 2014 in London dem über 90 Jahre alten Paul Caspari zurück gegeben.
Ilse Macek