Joseph Ziegler, Musiker, Komponist, Dirigent des Synagogenchores und Sonja Sura Ziegler, geborene Fleischer, Sängerin

Joseph Ziegler kommt am 17. November 1880 als zweiter Sohn von Wilhelm und Anna Ziegler, geborene Goldfarb, in Wien zur Welt.
Joseph hat sechs Geschwister, fünf Jungen und ein Mädchen: Edmund, am 18. Mai 1879 in Wien geboren, David, am 27. März 1885 bereits in München geboren, gefolgt von Benno am 8. Januar 1887, Ignaz am 25. Januar 1888, Siegfried am 23. März 1894 und zuletzt noch das fast 17 Jahre jüngere Schwesterchen Sabine am 5. Dezember 1897. Joseph hat das Glück in einer musisch-künstlerisch orientierten Familie aufzuwachsen. Der Vater, Wilhelm Ziegler, gehört zum Ensemble des Königlichen Hof- und Nationaltheaters in München und ist Mitglied des Synagogenchores, dem er über 40 Jahre treu bleibt. Bruder Benno wird eine Gesangsausbildung machen und Kammersänger werden, Siegfried Kunstmaler.


Joseph Ziegler kommt im Alter von fünf Jahren mit seiner Familie nach München. Nach der Volksschule besucht er die Ludwigs-Kreisrealschule. Er studiert an der Akademie für Tonkunst (der Vorgängereinrichtung der heutigen Hochschule für Musik und Theater München) Kompositionslehre bei Josef Gabriel Rheinberger, Klavier bei Eduard Bach und Berthold Kellermann, Orgel bei Josef Becht und Ludwig Maier sowie Horn bei Bruno Hoyer.


Seine ersten Berufserfahrungen macht er 1903/1904 als Kapellmeister am Stadttheater Schleswig, damals Hauptstadt der preußischen Provinz Schleswig-Holstein. Danach hält er sich sieben Jahre in Paris auf und studiert bei dem Organisten, Komponisten und Musikpädagogen Charles-Marie Widor. Inzwischen über 30 Jahre alt, kehrt Joseph Ziegler 1911 nach München zurück und betätigt sich zunächst als privater Musiklehrer. Er lebt bei seinen Eltern in der Thierschstraße 36 im Lehel. Ab 1917 ist er bei der Gemeinde als stellvertretender Leiter des Synagogenchores und ab 1923 als Leiter des erst 1920 gegründeten Jüdischen Gesangvereins als Nachfolger des verstorbenen Heinrich Frei angestellt.


Mit 44 Jahren heiratet er im April 1925 die 18 Jahre jüngere Sonja Sura Fleischer.


Sonja kommt am 17. Dezember 1898 in Odessa zur Welt. Sie ist die Tochter des Tabakschneiders Max (Mowsza) Fleischer und der gleichaltrigen Ida Kopenhagen; beide sind 1871 in Odessa geboren. Sonja hat sieben Geschwister, den drei Jahre älteren Abraham, geboren am 31. März 1895, und die zwei Jahre ältere Dora, geboren am 27. Dezember 1896, später verheiratete Mahler. Die jüngeren Geschwister sind Rivka Fanny, geboren am 6. August 1901, später verheiratete Rosenbaum, Rosa Miriam, geboren am 1. Juni 1903, später verheiratete Rehfeldt, Benjamin, geboren am 25. November 1905, noch in Odessa geboren. Klara (geboren am 30. November 1907), die später ebenfalls in die Familie Mahler einheiraten wird, kommt bereits in München zur Welt. Das jüngste Schwesterchen der inzwischen 15-jährigen Sonja, namens Mina, geboren am 14. September 1912, stirbt mit eineinhalb Jahren.


Die Eltern von Sonja, Max und Ida Fleischer, sind 1906 nach München gezogen; wo Max den Lebensunterhalt für die Familie als Tabakfabrikant verdient. Die Familie Fleischer hat zunächst die polnische Staatsangehörigkeit.


Sonja besucht die Volkschule an der Blumenstraße, dann die Riemerschmid‘sche Handelsschule für Mädchen an der Frauenstraße. Sie studiert privat Gesang und ist ab 1924 als Solistin des Synagogenchores der Hauptsynagoge tätig. Dort lernt sie ihren Mann kennen.
Nach der Hochzeit leben Sonja und Joseph Ziegler weiterhin bei Josephs Eltern in der Thierschstraße im Lehel. Für seine Komposition „Ma adam“ für Solo, Chor und Orgel erhält Joseph Ziegler 1927 den ersten Preis des Deutschen Kantorenverbandes. Josephs Mutter, Anna Ziegler, stirbt im gleichen Jahr. Sie ist 69 Jahre alt geworden und hat ihre Enkelkinder nicht mehr erlebt. Dem Großvater Wilhelm Ziegler ist dies noch vergönnt; er stirbt 1931 im Alter von 74 Jahren. Manfred Kurt, das erste Kind von Joseph und Sonja Ziegler, kommt am 30. Juni 1928, Hannelore am 14. Dezember 1929 zur Welt.


Sonja und Joseph Ziegler sind beide aktive Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde. 1930 und 1931 ist Joseph Ziegler als Mitglied des Synagogenausschusses genannt. In der „Bayerischen Israelitischen Gemeindezeitung“ vom 15. April 1930 werden die musikalischen Darbietungen der Münchner Gäste unter Leitung von Joseph Ziegler im „Wohltätigkeitskonzert in der Augsburger Synagoge“ besonders hervorgehoben:
„Eine besondere künstlerische Note erhielt dasselbe durch die gastweise Mitwirkung des Jüdischen Gesangvereins München unter seinem erprobten Führer Kapellmeister Joseph Ziegler. Ob es sich in der klanggeschlossenen, technisch bis zur letzten Konsequenz der totalen Sauberkeit vorgedrungenen Wiedergabe um liturgische Gesänge mit Kantorsolo und Orgel wie: ‚Ma tobu‘ von Max Löwenstein, ‚Hajom haaras olom‘ von Emanuel Kirschner oder mit gesteigerter Schwierigkeit um den prächtig zu Gehör gebrachten a capella-Chor ‚Ribono schel olom‘ von S. Almon handelte, endlich um den krönenden Abschluss bildenden Schlusschor aus Psalm 42 von Felix Mendelssohn mit Orgel, welche der Augsburger Organist der Synagoge, Herr N. Frei, meisterte, gewann der Hörer durch feinnervige Abtönung und intelligente Phrasierung den Eindruck höchst beachtlicher qualitativer Fähigkeiten des Chores der Münchener Gäste. In Erstaufführung von ‚Mo odom‘ mit Frau Sonja Ziegler als Sopranistin, Chor und Orgel von Joseph Ziegler, der in diesem Opus wirklich Empfundenes und Originelles zu künden hat, erwies sich der Komponist auch als schöpferische Persönlichkeit auf dem Gebiete liturgischer Gesänge.“


1934 wird der Familie die 1928 gewährte bayerische Staatsangehörigkeit entzogen; dies trifft viele Familien, die ursprünglich aus Polen stammen, jedoch schon Jahrzehnte in München ansässig sind.


Im Februar 1934 wird die im September 1933 beantragte Gründung eines Jüdischen Kulturbundes in Bayern vom Bayerischen Kultusministerium genehmigt. Den 1. Vorsitz hat Justizrat Dr. Fritz Simon Ballin inne, der auch Schriftsteller, Journalist, Konzert- und Theaterkritiker ist. Ballin emigriert 1936 nach England. Geschäftsführer und Dirigent des Kulturbundorchesters ist der ehemalige Frontoffizier Erich Erck, der auch den Antrag zur Gründung des Kulturbundes gestellt hatte. Ein Jahr später wird die Münchner Vereinigung dem Reichsverband der deutschen Kulturbünde angegliedert, was vor allem der besseren Überwachung dienen soll. Der Münchner Kulturbund bleibt relativ eigenständig. Man organisiert Liederabende, Kammermusik-Vorstellungen und Orchesterkonzerte, Kunstausstellungen, Rezitationsabende und Vorführungen des Marionettentheaters. Joseph Ziegler tritt im Rahmen des Jüdischen Kulturbundes als Dirigent auf und leitet das „Münchner Jüdische Vokalquartett“, in dem auch seine Ehefrau Sonja Mitglied ist. Das Ehepaar tritt bei Konzerten und Vortragsabenden oft gemeinsam auf.


Joseph Ziegler ist als Chorleiter und Komponist für Chorgesang auch außerhalb der jüdischen Gemeinde anerkannt. Zusammen mit den Direktoren der Städtischen Singschule München, Josef Peslmüller und Fritz Weber, gibt er das Werk „Münchner Jugendchöre“ heraus. Zu seinen noch heute bekannten Kompositionen gehören: „Kol Nidrei“, eine Phantasie für Orgel; „Gebet“ nach dem Text „Herr, den ich tief im Herzen trage“ von Emanuel Geibel für drei Stimmen mit Orgelbegleitung; „Und Friede auf Erden“ (aus dem frühmittelalterlichen Epos „Heliand“) für Sopransolo mit dreistimmigem Frauen- oder Knabenchor und Orgel sowie der Psalm „Was ist der Mensch“ (Psalm 8:5).

Joseph Ziegler, der seit 1913 in der Thierschstraße im Lehel gewohnt hat, muss mit seiner Ehefrau Sonja und den Kindern Manfred und Hannelore im Januar 1941 in die Widenmayerstraße 38 umziehen; nach vier Monaten muss die Familie ab 21. Mai 1941 im so genannten „Judenhaus“ in der Jakob-Klar-Straße 7 leben. Joseph Ziegler stirbt am 25. Juni 1941 im Alter von 60 Jahren; die Umstände seines Todes sind ungeklärt. Sonja und die Kinder ziehen am 18. Juli 1941 in die Schillerstraße 10 ins Hotel Bavaria und zuletzt, eine Woche später, in das so genannte „Judenhaus“ in der Thierschstraße 4.

Sonja Ziegler wird am 20. November 1941 zusammen mit ihren Kindern Manfred und Hannelore in der ersten großen Deportation aus München nach Kaunas deportiert und dort am 25. November ermordet. Sonja ist 42, Manfred 13 und Hannelore wäre im Dezember 1941 12 Jahre alt geworden.

Eine der Schwestern von Sonja, Rivka Fanny Rosenbaum, geborene Fleischer ist zusammen mit ihrem Mann, Joseph Rosenbaum, und ihrem Sohn Manfred, im gleichen Deportationszug und wird in Kaunas ermordet. Rivka Fanny ist 40, Joseph Rosenbaum ist 44 Jahre, Manfred 13 Jahre alt.

Die anderen Geschwister von Sonja können ins rettende Ausland gelangen:
Der Bruder Benjamin Fleischer, ist bereits 1933 nach Paris emigriert. Drei von Sonjas Schwestern gelingt die Flucht nach Palästina zusammen mit ihren Ehemännern: Rosa Miriam Rehfeldt, die schon 1934 emigriert, 1937 gefolgt von Klara Mahler und Dora Mahler.
Sonjas Mutter, Ida Fleischer, gelingt im Juni 1939 die Ausreise nach Italien.

Die Bemühungen von Sonjas Vater, dem als staatenlos geltenden Max Fleischer, im Frühjahr 1939 zu emigrieren, scheitern. Am 16. Januar wird er gezwungen, im Internierungs- und Sammellager in Berg-am-Laim in der Clemens-August-Straße 9 zu wohnen, wo er noch ein halbes Jahr verbringt. Am 16. Juli 1942 wird der 71-jährige nach Theresienstadt und von dort am 19. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und dort ermordet.

Sonjas Schwägerin, die geschiedene Frau des Bruders Abraham, der nach Belgien emigriert war, Reisa Rosa Fleischer, geborene Saposchnik, wird am 13. März 1943 von München nach Auschwitz deportiert und dort im Alter von 47 Jahren ermordet.

Josephs Bruder, Edmund Ziegler, wird zusammen mit seiner Ehefrau Jeanette, verwitwete Silberberg, geborene Teicher, von Karlsruhe am 22. Oktober 1940 ins Internierungslager Gurs verschleppt, dann ins Lager Récébédou, wo seine Frau Jeanette am 8. April 1941 im Alter von 46 Jahren zu Tode kommt. Am 6. März 1943 wird Edmund Ziegler mit dem 51. Konvoi über Drancy ins Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek deportiert und dort ermordet. Zu diesem Zeitpunkt ist er 63 Jahre alt. Der 15-jährige Sohn Paul Alexander Ziegler kann mit seinen 22-jährigen Stiefbruder Wilhelm Silberberg im Sommer 1939 nach England fliehen. Er verliert seinen großen Bruder aber im September 1940; Wilhelm stirbt im Londoner Colindale Hospital an der im KZ Dachau 1938 zugezogenen Tuberkulose, die er sich nach der Verschleppung ins KZ-Dachau am 10. November 1938 in der Haftzeit zugezogen hatte.
 
Drei der Geschwister von Joseph überleben, weil sie ins rettende Ausland flüchten können:
Die Schwester Sabine, verheiratete Metzger, emigriert von Karlsruhe aus nach Italien und überlebt dort die Schoa.

Dem Kunstmaler Siegfried Ziegler gelingt 1938 die Auswanderung in die Vereinigten Staaten; er stirbt 1971 in Westchester im Staat New York.

Der Kammersänger Benno Ziegler lebt in Frankfurt in einer so genannten „privilegierten Mischehe“, seine Frau ist nichtjüdisch. Das Ehepaar kann 1939 nach England emigrieren; er kommt nach dem Krieg als einer der wenigen Remigranten nach München zurück und stirbt am 18. April 1968 in München im Alter von 76 Jahren.

 

Ilse Macek