MÜNCHNER WEG DER ERINNERUNG

Münchner Gedächtnisort: Familie Goldlust

 Während unseres Projekts Andenkenpflege auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München sind wir auch auf das Grab von Paul Goldlust gestoßen. Nach unseren Arbeiten ist es wieder möglich seinen Namen zu lesen.
Während unseres Projekts Andenkenpflege auf dem Neuen Israelitischen Friedhof in München sind wir auch auf das Grab von Paul Goldlust gestoßen. Nach unseren Arbeiten ist es wieder möglich seinen Namen zu lesen.

Leopold Paul Goldlust kommt am 18. Januar 1876 im damals österreichisch-ungarischen Pressburg (ungarisch: Pozsony, ab 1919: Bratislava) als Sohn des Privatiers Sigmund und Johanna Goldlust, geborene Hartmann, zur Welt. Er hat einen jüngeren Bruder Adolf, geboren im Mai 1879. Etwa 70 Prozent der Pressburger Bevölkerung sind zu dieser Zeit deutsch bzw. deutschsprachig, die Ungarn und Slowaken in der Minderzahl.

 

Er heiratet am 13. September 1903 im Alter von 27 Jahren in Pressburg Gisela Klein, die am 19. Oktober 1875 in Tyrnau, einer kleinen Stadt in der Nähe von Pressburg (damals ebenfalls Königreich Ungarn, heute slowakisch: Trnava) geboren ist. Leopold Paul Goldlust hat die polnische Staatsangehörigkeit.

 

Giselas Großvater, Moritz Klein, war Kaufmann in Zavar (damals Ungarn). Giselas Vater, Johann Jan Klein, hatte sich in Tyrnau als Lederhändler niedergelassen und dort 1871 Hermine Lubowinski geheiratet. Sie - eine katholische Apothekerstochter - war vor der Hochzeit nach Wien gereist, aus der katholischen Kirche ausgetreten und in der Synagoge Wien im 1. Bezirk in der Seitenstettengasse in den Bund des Judentums aufgenommen worden, ein äußerst mutiger Schritt in der damaligen Zeit und vor allem im katholisch dominierten Milieu des Städtchens Tyrnau. Im Spätmittelalter war dort nach einem Pogrom Juden der Zutritt verboten worden, was von Joseph II 1781/82 mit dem so genannten Toleranzpatent und vor allem aus wirtschaftlichen Gründen wieder aufgehoben wurde. Erst im 19. Jahrhundert hatte sich in Tyrnau wieder eine jüdische Gemeinde gebildet. Hermine hatte den Proselytennamen Sharah bat Awraham awinu (Sarah, Tochter des Stammvaters Abraham) erhalten. Sie hatte neben der an vierter Stelle geborenen Tochter Gisela, noch fünf Söhne: Leo, geboren 1863, Karl, geboren 1865, Max, geboren 1871, Sándor, geboren 1877 und Gustav, geboren 1880. Alle Kinder waren in Tyrnau zur Welt gekommen

 

Nach der Hochzeit lebt das junge Paar, Gisela und Leopold Paul Goldlust, drei Jahre in Wien. Die Eltern von beiden leben ebenfalls in Wien; beide Väter, Sigmund Goldlust und Johann Jan Klein sind dort als Privatiers gemeldet. Johann Klein stirbt 1899 im Alter von 70 Jahren. Die Mutter von Leopold Paul, Johanna Goldlust, stirbt am 7. Mai 1922 in Wien und ist im Zentralfriedhof begraben.

 

Gisela und Leopold Paul Goldlust ziehen am 10. Dezember 1906 nach München. Die erste Wohnung ist in der Wörthstraße 33, Erdgeschoß, in Haidhausen. Leopold Paul ist anfangs bei der Produktionsfirma „Weiß-Blau-Film, München“ beschäftigt, später ist er Requisiteur am Schauspielhaus in der Maximilianstraße. Von Juli 1907 bis Februar 1908 lebt Leopold Pauls Bruder Adolf in ihrem Haushalt; er meldet sich dann „nach unbekannt“ ab. Ab 1. April 1912 wohnen Leopold Paul und Gisela Goldlust 15 Jahre in der Au in der Edlingerstraße 22 im 2. Stock, bevor sie am 9. Dezember 1927 in eine der Gemeindewohnungen der Israelitischen Kultusgemeinde neben der Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße 7, Rückgebäude, 1. Stock, ziehen. Leopold Paul Goldlust ist nun Kastellan der Münchner Hauptsynagoge. Giselas hochbetagte Mutter, Hermine Klein, geborene Lubowinski, wohnt bereits seit April 1912 bei ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn.

 

Es existiert ein Brief von Hans-Dieter Klein, Professor aus Wien, Enkel des 1880 geborenen Gustav Klein, des fünf Jahre jüngeren Bruders von Gisela. Er schildert seine Großtante Gisela und auch deren Mutter Hermine, die wohl sehr gut Klavier spielen konnte, da sie – obwohl schon 90 Jahre alt ­– Beethovens Appassionata dem Vater von Hans-Dieter Klein in der Gemeindewohnung in der Herzog-Max-Straße anlässlich seines Besuches vorgespielt haben soll. Er schreibt auch über den offenbar sehr friedlichen Tod von Hermine Klein. Laut seinem Vater hatte sie, völlig gesund und geistig klar, in der Küche gesessen und war dort am 24. Mai 1930 mit 92 Jahren friedlich eingeschlafen.

 

Kinder hat das Ehepaar Goldlust keine, sie sind aber bei den in den Gemeindewohnungen lebenden Nachbarkindern sehr beliebt. Leopold Paul Goldlust hat als Schames der Synagoge das Magazin unter sich, wo es alte Briefmarken und Spielsachen gibt, mit denen die Kinder spielen dürfen. Und sie dürfen dort Station machen, werden getröstet und mit Schokolade beschenkt.

 

Am 28. Oktober 1938 werden Paul und Gisela Goldlust als polnische Staatsangehörige verhaftet. Sie sollen gewaltsam und für sie und die anderen Betroffenen völlig überraschend nach Polen abgeschoben werden, nachdem Polen angekündigt hatte, seinen Landsleuten, wenn sie über fünf Jahre im Ausland gelebt haben, die Staatsbürgerschaft entziehen zu wollen. Die bei dieser so genannten „Polen-Aktion“ verhafteten jüdischen Münchner müssen die Nacht im Gefängnis Stadelheim verbringen und werden am 29. Oktober früh um 5.10 Uhr mit einem Sonderzug in Richtung polnische Grenze gefahren. Als der Zug am Abend in Guben eintrifft, hatte die polnische Regierung den Erlass bereits wieder zurückgezogen. Die Zuginsassen dürfen auf eigene Kosten nach München zurückfahren.

 

Es kommt noch schlimmer. In der „Kristallnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 kommt es zu einer schrecklichen Begebenheit am Eisentor in der Mauer des Hofes in der Herzog-Max-Straße Nr. 7. Die Nazischergen holen den Schames Leopold Paul Goldlust aus der Wohnung und vollziehen an ihm eine Schein-Erhängung an dem Tor durch. Halbtot lässt man ihn dann los und bringt ihn weg. Joseph Grasdanner, der nichtjüdische Hausmeister der Hausanlage, und der Nachbar Franz Grube haben dieses Verbrechen später bezeugt.

 

Nachdem die wunderschöne Hauptsynagoge abgerissen ist, werden den Mietern die Gemeindewohnungen nach und nach gekündigt, sie werden, wie der damalige zynische Begriff heißt, „entmietet“. Ab 3. Dezember 1938 muss das Ehepaar Goldlust in die Lindwurmstraße 125, Rückgebäude, 2. Stock, ziehen, wo die Israelitische Kultusgemeinde ihre letzte Wirkstätte gefunden hat.

 

Nach dem deutschen Überfall auf Polen, dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, wird Leopold Goldlust als polnischer Staatsangehöriger in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Dort erhält er die Häftlingsnummer 10399. Gisela, die in der Massenunterkunft in der Lindwurmstraße 125 lebt, die die Israelitische Kultusgemeinde für ihre Münchner Mitglieder geschaffen hat, kennt weder den Aufenthaltsort noch weiß sie etwas über das Schicksal ihres Mannes; dies ist bezeugt.

 

Am 8. Dezember 1939 wird Leopold Paul Goldlust im Lager Buchenwald unter ungeklärten Umständen im Alter von 63 Jahren ermordet.

Gisela Goldlust wird am 22. Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert und kommt dort im Alter von 68 Jahren am 24. April 1944 um.

 

Auch zwei der Brüder von Gisela Goldlust, Max und Sándor Klein, werden Opfer der Shoah. Sándor Klein, eingedeutscht: Alexander Klein, Mediziner, geboren am 6. Juli 1877, des Öfteren bei seiner Schwester in München einige Monate zu Besuch und dort auch ordnungsgemäß gemeldet, wird von Wien am 2. November 1941 ins Ghetto Litzmannstadt (Łódź) deportiert, wo er im Alter von 64 Jahren ermordet wird. Der Bruder Maximilian, geboren am 1. Juni 1871, Fabrikdirektor in Wien, der ebenfalls seine Schwester Gisela oft in München besucht hat, zuletzt einen Monat lang von Mai bis Juni 1938, wird am 10. Juli 1942 von Wien nach Theresienstadt deportiert und kommt dort am 30. Juli im Alter von 71 Jahren zu Tode. Von Leopold und Karl Klein haben sich die Spuren verloren.

 

Gustav Klein, der fünf Jahre jüngere Bruder von Gisela Goldlust, überlebt die Shoah; er hat einen Enkel Hans-Dieter, im Oktober 1940 geboren und – inzwischen emeritierter – Professor der Philosophie in Wien.

 

Ilse Macek