Familie Emanuel Kirschner

Oberkantor Emanuel Kirschner wohnte mit seiner Familie fast 45 Jahre, ab 1. Oktober 1893 bis 23. Juni 1938, in einer der Gemeindewohnungen der Israelitischen Kultusgemeinde neben der Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße 7, 2. Stock.

Emanuel Menachem Ben Aron Kirschner kommt am 15. Februar 1857 als drittes von elf Kindern des Bäckermeisters Aron Ben Moshe Kirschner und der Bertha Kirschner, geborene Böhm, in Rokittnitz, Kreis Oppeln in Oberschlesien zur Welt (seit 1945 ist Rokitnica ein Stadtteil der Stadt Zabrze, Südpolen). Sein Großvater, Moses Kirschner, war Begründer und 1. Vorsitzender des Talmud-Thora-Vereins zu Beuthen (Bytom), dessen Zweck es war „arme Kinder unterrichten zu lassen.“

Die Geschwister sind Herman Hirschel, 1854 geboren; Max 1855 geboren, gestorben 1935 in Berlin; Moses 1861 bis 1937; Markus 1862; Jakob, dessen Geburtstag unbekannt ist, gestorben 1937 in Berlin; Daniel, geboren 1864, gestorben 1939 in Berlin; Benjamin, geboren 1865, gestorben 1927 in München; Wilhelm, geboren am 26. März 1867, der zusammen mit dem jüngsten Bruder Abraham, geboren 1870, Opfer der Schoa werden wird. Bei der Tochter Selma, später verheiratet mit Ignatz Thoman, ist nur das Todesdatum, 10. August 1922 in Berlin, bekannt.
 
Die Familie lebt nun in Karf, sieben Kilometer von Rokittnitz gelegen, von wo aus Emanuel Kirschner die jüdische Schule im vier Kilometer entfernten Beuthen besucht. Emanuel erhält seine religiöse Ausbildung bei Elieser Pinczower. Sein erster Klavierlehrer ist der Kantor der Synagoge in Beuthen, Mordechai Perez Weintraub, ein Bruder des bekannteren Königsberger Kantors Hirsch Weintraub.


Musiktheorie wird ihm vom Nachfolger Weintraubs, dem damaligen Oberkantor Josef Singer vermittelt und er singt im örtlichen Synagogenchor. Um dies zu erwirken, war Singer öfters von Beuthen nach Karf gefahren und beim Vater von Emanuel vorstellig geworden, der zunächst dagegen war, dass die Familie am Schabbat getrennt ist. Erst als die Familie im preußisch-österreichischen Krieg 1868 von Karf nach Beuthen zieht, kann Emanuel im Chor von Josef Singer mitwirken. So wird dem jungen Emanuel das moderne Repertoire des synagogalen Gesangs des Wiener Kantors Salomon Sulzer und des in Frankreich wirkenden Samuel Naumbourg vertraut.
Nach seiner Bar Mitzwa darf Emanuel den gesamten Freitagabend-Gottesdienst singen.

1874 ist Emanuel Kirschner 17 Jahre alt, studiert am Lehrerseminar der jüdischen Gemeinde Berlin, ist Schüler des bedeutendsten Reformers der synagogalen Musik, des Kantors und Komponisten Louis Lewandowski, und singt in dessen Chor im Bass an der Neuen Synagoge zu Berlin an der Oranienburger Straße. Daneben erteilt er Privatstunden, um sein kärgliches Einkommen aufzubessern.
1877 schließt er das Studium am Lehrerseminar ab und unterrichtet in der jüdischen Gemeindeschule; ab 1879 ist er zwei Jahre lang zweiter Kantor an der Neuen Synagoge.

Am 1. Januar 1881 zieht Emanuel Kirschner nach München. Als erst 24-Jähriger siegt er beim Probevortrag über alle Mitbewerber auch deshalb, weil der als Gutachter hinzugezogene renommierte Hofkapellmeister Hermann Levi urteilte: „Der Mann kann singen. Den wählen Sie.“ Als Nachfolger des 1881 gestorbenen, deutschlandweit berühmten und beliebten Max G. Löwenstamm, der 34 Jahre lang als Oberkantor in München wirkte, muss er – zunächst bis 1887 an der Synagoge an der Westenriederstraße, dann an der 1887 neu errichteten Hauptsynagoge an der Herzog-Max-Straße – den Vergleich mit seinem Vorgänger nicht scheuen. Er tritt mit verschiedenen Chören und als Solosänger auf und übernimmt zusätzlich Aufgaben als Religionslehrer. Zweiter Kantor ist Heinrich Frei (1846 – 1923), der auch den Chor dirigiert.

Emanuel Kirschner vervollständigt seine Studien in Harmonielehre im Privatunterricht bei Melchior Sachs, in Kompositionslehre und Gesang bei Münchner Musikpädagogen der Akademie der Tonkunst sowie der Königlichen Musikschule wie Hans Hasselbeck, Josef Rheinberger, Wilhelm Heinrich von Riehl und Ludwig Thuille. Bereits nach zwei Jahren bekommt Kirschner einen unbefristeten Arbeitsvertrag; ansonsten war dies nach einer Frist von fünf Jahren üblich. Ab 1885 wird er Mitglied des Lehrergesangsvereins und tritt bald, neben seinen Verpflichtungen als Kantor als Solist auf, u.a. mit Liedern und Arien von Franz Schubert, Robert Schumann, Carl Loewe, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Anton Rubinstein und auch Richard Wagner. Von der Presse werden seine Auftritte durchwegs positiv aufgenommen.

Im August 1884 heiratet der 27-jährige Emanuel Kirschner die aus Bühl stammende 22-jährige Ida Bühler, geboren am 22. Januar 1862.
Ida Kirschners Eltern sind der Gastwirt und Seifensieder Jakob Bühler und seine Ehefrau Johanna, geborene Münzesheimer.

Ida ist die jüngste der zehnköpfigen Geschwisterreihe: Die 17 Jahre ältere Pauline, verheiratete Kaufmann, ist 1844 geboren; gefolgt von Gottlieb, geboren 1839; Max, geboren 1847; Rosa, geboren 1849, später verheiratete Jochsberger, gestorben 1910; Ferdinand, geboren 1950, gestorben 1893; Moritz, geboren 1851; Emil, geboren 1852; Mathilde, geboren 1855, später verheiratete Schott, gestorben 1936 und Caroline, geboren 1857, später verheiratete Loewenstein, gestorben 1936.

Dem Ehepaar Emanuel und Ida Kirschner werden zwei Kinder geboren; Max am 7. März 1886 und Fritz am 18. April 1889.
Im Oktober 1893 zieht die Familie Kirschner in eine Wohnung in den neben der prächtigen Hauptsynagoge gelegenen Gemeindehäusern der Israelitischen Kultusgemeinde in der Herzog-Max-Straße 7, 2. Stock. Emanuel Kirschner wendet sich verstärkt dem Komponieren zu. Am 30. März 1894 kommt Tochter Bertha zur Welt. Sie stirbt im Alter von vier Jahren am 13. April 1898 an Scharlach.

Emanuel Kirschner ist inzwischen der bedeutendste Kantor in München und wohl auch in ganz Deutschland.
Seine hervorragende Gesangskunst trägt ihm 1893 eine Berufung an die Königliche Akademie der Tonkunst (die heutige Hochschule für Musik und Theater) als Lehrer für Sologesang und damit den Professorentitel ein.


Zu dieser Zeit unterrichtet er acht Studentinnen und Studenten. Wegen Überlastung und weil die Anstrengung des Gesangunterrichts seiner Stimme schadet, gibt er diese Tätigkeit wieder auf. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Neben sämtlichen Funktionen des ersten Kantors, deren Durchführung mir ungemein erschwert wurde durch ein mir anhaftendes überaus lästiges Lampenfieber, neben dauernder gesanglicher Fortbildung und vielfachem Auftreten als Solist in öffentlichen Konzerten, neben Erteilung von Religionsunterricht in zwölf Wochenstunden, ganz abgesehen von meinen kompositorischen Arbeiten, hatte ich mir noch den Gesangunterricht in der Akademie [...] aufgebürdet. Kein Wunder, wenn ich schon gegen Ende 1893 hochgradig nervös wurde, unter oft auftretenden Magenbeschwerden zu leiden anfing ...“


Auch der große Wagnersänger, der Tenor Heinrich Knote, verdankt Emanuel Kirschner seine musikalische Ausbildung. Vor allem der Münchner Hoftheaterintendant, Karl Freiherr von Perfall, erkennt Kirschners außergewöhnliche Lehrbegabung, denn Heinrich Knote, der von Haus aus Schmiedegeselle war, wäre wohl ohne Kirschners systematischen musikalischen Unterricht nicht zu einem Sänger ersten Ranges geworden.

Der Musikwissenschaftler und Kantor Abraham Zvi Idelsohn schreibt: „Der größte unter den lebenden Komponisten der Synagogenmusik in Deutschland ist gegenwärtig Emanuel Kirschner – Kantor und musikalischer Führer in München […] Erfüllt von echt jüdischem Geist, mit feinem Musikverständnis und bestens ausgebildet in der klassischen und religiösen Musik, bemüht er sich sein ganzes Leben lang, den Musikstil des Synagogenliedes zu verfeinern, ohne jedoch dabei dem echt jüdischen Charakter des Gesangs untreu zu werden.“

Auch in der Zusammenarbeit mit dem Münchner Kapellmeister, Synagogenchorleiter und Komponisten von Orgelwerken, Joseph Ziegler, entstehen neuartige eigene Werke, so dass die vokalen „[…] Kompositionen Kirschners mit den Orgelkompositionen Zieglers eine musikalische Einheit“ bilden, „die sowohl in der Liturgie als auch im Rahmen von Konzerten in der Synagoge ihren Platz“ haben.

Seit etwa 1920 ist auch Paul Frankenburger, der sich später Paul Ben Haim (1897-1984) nennt, ein regelmäßiger Synagogenbesucher. Der Einfluss der liturgischen Musik auf die frühe musikalische Entwicklung des jungen Komponisten, die wiederum entscheidend durch den musikalisch eher konservativen Kirschner bestimmt war, ist unbestritten. Von Heinrich Schalit, der Kirschners Bemühungen, jüdische Tradition und jüdische Themen in Musik umzusetzen, in modernisierter Form fortsetzte, wird Ben Haim angeregt, sich ebenfalls der „jüdischen Musik“ zuzuwenden. In der Tat komponiert Ben Haim dann zwischen 1929 und 1933 eine Reihe von Vokalstücken zu biblischen Texten und reichert seine Kompositionen mit musikalischen Elementen aus dem synagogalen Spektrum an.

Kirschners bekannteste veröffentlichte Werke sind vor allem die vier Bände der Gesänge für Kantor und Orgel „Tehilloth le-El Eljon“, die mit mehr als 100 Kompositionen zwischen 1897 und 1926 erscheinen, „Jüdische Gesänge, München 1925“, und „Trauungsgesänge“ für Kantor und Chor mit Orgelbegleitung, 1883 (im Selbstverlag).


Daneben verfasst er auch musiktheoretische Werke, wie „Über mittelalterliche Poesien und ihre Singweisen“ und „Die historische Entwicklung des traditionellen Synagogengesangs“.


Von Max Zenger, Komponist und unter anderem Lehrer an der Königlichen Musikschule, wird Kirschner attestiert, dass er „die Hymnen seines Volkes nach ihrem Gefuehlsinhalt erfasst habe“ und „ihre Stimmung in moderner Vertonung wiedergebe“.

Neben seinem musikalischen Wirken ist Emanuel Kirschner ein kunstbegeisterter Mann. Bei ihm zu Hause verkehren viele Künstler; genannt seien hier die Bildhauer Henryk Glycenstein, der 1942 in New York und Professor Arnold Zadikow, der 1943 im Ghetto Theresienstadt sterben wird. „Es verging wohl keine Woche, in der er nicht ein Museum, eine Bildergalerie, eine Kunstausstellung besuchte“ schreibt sein Neffe, Dr. Bruno Kirschner (1884 Berlin, 1964 Jerusalem), 1958 über ihn.

Nach 45-jähriger Dienstzeit, 1926 geht Emanuel Kirschner in den „dauernden Ruhestand“, ist aber weiterhin ehrenamtlich tätig. Erst 1928, Kirschner ist inzwischen 71 Jahre alt, als Moritz Neu das Amt des Ersten Kantors antritt, zieht er sich endgültig aus den kantoralen Funktionen zurück. In den Folgejahren bleibt er im Gemeindeleben aktiv. 1931 singt er zum 50. Mal zu Rosch Ha Schana. Der Königsberger Rabbiner Dr. Felix Perles (1874 – 1933), Sohn des Münchner Rabbiners, Dr. Joseph Perles (1835 - 1894), wird in dem Festartikel zum 50. Auftritt über den jungen Emanuel Kirschner schreiben: „Außer seiner gründlichen Fachbildung brachte er aber auch noch etwas mit, was man weder erben noch von anderen lernen kann, sondern was aus dem Menschen selbst quillt: die echte, ungeheuchelte Frömmigkeit und der unbedingt zuverlässige Charakter, die allen Leistungen erst den Stempel der Vollwertigkeit aufdrückt.“

Als am 8. Juni 1938 dem damaligen 1. Vorsitzenden der Kultusgemeinde, Dr. Alfred Neumeyer, im Ministerium des Innern eröffnet wird, dass am folgenden Tag die Synagoge an der Herzog-Max-Straße abgerissen werde, bittet die Gemeinde Emanuel Kirschner, den Schlussgesang im Abschiedsgottesdienst vorzutragen. Trotz jahrelangen Pausierens und trotz seiner Erschütterung, die ihn zweifeln lässt, ob er dazu imstande ist, kommt er diesem Wunsche nach. Er singt den 102. Psalm. Er selbst schreibt: „Als ich ‚mit gebrochenem Herzen‘ die Treppe zum Almemor hinanstieg, als ich zwar demütig, aber dennoch mit klarer Stimme die meinem Herzen entströmenden Worte zu sagen begann „T’philloh l’oni ki jaatof‘ (Ein Gebet des Elenden, wenn er betrübt ist und seine Klage vor dem Ewigen ausschüttet) und tiefe Ergriffenheit in der die Synagoge füllenden Gemeinde auslöste, dankte ich meinem Schöpfer, der mir diese Widerstandskraft verlieh.“
Ein Menschenleben hat Emanuel Kirschner an dieser Synagoge gewirkt; bei der Einweihung hat sein Gesang die Gemeinde erfreut und im Schlussgottesdienst im Juni 1938 tief erschüttert.

Nachdem nach der Zerstörung der Synagoge die Kantorenwohnung geräumt werden muss, zieht das Ehepaar Emanuel und Ida Kirschner in das Altenheim an der Kaulbachstraße 65. Dort stirbt Emanuel Kirschner am 28. September 1938, nur drei Monate nach dem barbarischen Abriss der Hauptsynagoge. Er hinterlässt neben seiner Frau Ida Kirschner, seine beiden Söhne, Dr. Max Kirschner und Fritz Kirschner, deren Ehefrauen und vier Enkel. Er erlebt nicht mehr, dass sein Nachfolger Abraham Müller, der im Zuge der Novemberpogrome ins Konzentrationslager Dachau verschleppt und dort aufgrund mangelnder ärztlicher Versorgung an den Folgen einer Magenoperation stirbt, für die er kurzzeitig ins Schwabinger Krankenhaus verbracht worden war.

Emanuel Kirschners Witwe Ida wird während des Novemberpogroms aus dem Altenheim in der Kaulbachstraße vertrieben und kurzzeitig von den Kindern in Frankfurt und Berlin aufgenommen. Später kann sie ins Altenheim in der Kaulbachstraße zurückkehren. Ab März 1942 lebt sie im Altenheim in der Klenzestraße 4 und stirbt dort am 4. Juni, kurz vor der ihr drohenden Deportation.
Der Sohn Fritz Kirschner emigriert von Berlin nach Palästina und stirbt dort 1944 im Alter von 55 Jahren.

Der zehn Jahre jüngere Bruder von Emanuel Kirschner, Wilhelm Kirschner, wird am 31. August 1942 von Berlin ins Ghetto Theresienstadt verschleppt. Von dort wird der 75-jährige am 29. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet.

Emanuel Kirschners 13 Jahre jüngerer Bruder Abraham wird von Berlin am 24. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 14. Februar 1944 im Alter von 73 Jahren umkommt.

Der Sohn Max Kirschner hatte Medizin studiert und lebte und praktizierte in Frankfurt. Nach dem Entzug der Approbation wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt, verlor durch die nationalsozialistischen antijüdischen Gesetze und Verordnungen seinen gesamten Besitz und musste mit seiner Ehefrau Gertrude und dem Sohn Siegfried (später Fred) 1938 nach London emigrieren und im Januar 1940 von Liverpool aus mit dem Schiff nach New York. Dort durchlief er noch einmal eine medizinische Ausbildung und baute sich ein zweites Leben auf. Eine Reise nach Deutschland kam nach 1945 für ihn nie mehr infrage. Gertrude starb 1962, Max am 16. August 1975 mit 89 Jahren in Novato, Marin County in Kalifornien. Das Ehepaar ist auf dem United Hebrew Cemetery (Mount Olive Cemetery), in St. Louis, Missouri, bestattet.


Nach Dr. Max Kirschner ist seit 2008 in Frankfurt-Heddernheim der Max-Kirschner-Weg benannt. Elf seiner Nachkommen waren zu der Feier aus den USA und Großbritannien angereist.

 

Ilse Macek