Merry Gaber

Merry Gaber wird am 29. August 1930 in Dresden geboren. Von Merrys Vater ist nichts bekannt, außer, dass er in Dresden wohnte. Merrys Mutter, Amalie Malka Gaber, ist am 16. Juli 1912 in Czernowicz in der Bukowina geboren und das jüngste von drei Kindern von Jeanette (Scheindl) Gaber und dem Schreiner Isser Wolloch, dem nur nach jüdischen Ritual angetrauten Ehemann, weswegen die aus dieser Ehe hervorgegangen Kinder im Deutschen Reich als „unehelich“ gelten. Amalies um fast 18 Jahre älterer Bruder, Abraham Meier, ist 1894, die um 14 Jahre ältere Schwester Frieda 1898 im 60 km von Czernowicz entfernten Berhometh zur Welt gekommen.

 

Die Mutter von Merry, Amalie Malka Gaber lebt bis Juni 1929 bei ihrer Mutter Jeanette Gaber in München, mit einer Unterbrechung von einigen Monaten als 13-jährige in Berlin bei ihrer großen Schwester Frieda Knappe, die dort verheiratet ist, und dann auch eine Weile in Czernowicz.

 

Amalie Gaber ist 18 Jahre alt, als sie Merry bekommt, nicht verheiratet, mit dem Kind überfordert, das kann man jedenfalls vermuten. Sie arbeitet als Propagandistin und ist viel unterwegs. Jedenfalls lebt sie einige Zeit als „Haustochter“ in Dresden, dann in Karlsruhe, später irgendwo im „Ausland“.

 

Wo Merry die ersten Lebensmonate verbringt, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Merry kommt jedenfalls mit noch nicht einmal zwei Jahren im Januar 1932 zur Großmutter Jeanette Gaber nach München. Die Großmutter erkrankt jedoch schwer. Bereits am 29. Januar wird für Merry das gemeindliche Sorgerecht beantragt, da für sie zu Hause nicht mehr gesorgt werden könne.

 

Großmutter Jeanette stirbt nach drei Monaten im April 1932 mit nur 54 Jahren an einer offenen Tuberkulose im Krankenhaus links der Isar in der Ziemssenstraße; der Großvater war bereits 1917 mit nur 45 Jahren verstorben. Merry hat nun nur noch ihre in München lebende angeheiratete Tante Paula, die 1891 in Cherson bei Odessa geborene, zeitlebens „staatenlose“ Witwe des Bruders ihrer Mutter, des Fotografen Abraham Meier Gaber, der bereits 1922 im Alter von nur 27 Jahren im Schwabinger Krankenhaus verstorben war; die Todesursache ist nicht bekannt.

 

Tante Paula ist nun auf sich alleine gestellt und hat ein eigenes Kind zu versorgen, den 1922 geborenen Alfred. Ihr erstes Kind, der 1920 geborenen Siegfried war bereits als Säugling im Januar 1921 gestorben.

 

Merry erkrankt und wird im Mai 1932 ins Schwabinger Krankenhaus eingeliefert mit dem Verdacht auf Tuberkulose. Ende 1932 kommt sie ins Kinderheim an der Antonienstraße. Sie ist aber nicht auskuriert und befindet sich von März 1933 an fünf Monate in Gaißach im Lungensanatorium und anschließend in der dortigen Kleinkinderheilstätte, dann wieder im Antonienheim. Vom Wohlfahrtsamt der israelitischen Kultusgemeinde wird unterdessen versucht, etwas über ihre Eltern zu erfahren und außerdem wird die Kostenübernahme zugesichert. Die Mutter, so die lakonische Feststellung von Amts wegen, „…ist nicht in der Lage, das Kind bei sich zu erziehen.“ Das Kind besitzt die rumänische Staatsbürgerschaft, die aber nicht von allen Stellen anerkannt wird. Sie darf sich laut einem Dokument der Sozialfürsorge daher nur „in stets widerruflicher Weise“ im Antonienheim aufhalten, die Genehmigung wird jeweils für ein Jahr erteilt.

 

Im Antonienheim verlebt Merry ihre glücklichste Zeit, kommt 1937 in die Schule, hat Freunde. Die Mutter, das wird nach vielem bürokratischem Hin und Her 1938 klar, lebt inzwischen in Amerika. Merry hat jedoch nach wie vor keine anerkannte Staatsbürgerschaft. Ihre Auswanderung nach Rumänien oder überhaupt ins rettende Ausland wird vom Kinderheim bzw. der Sozialfürsorgestelle der jüdischen Gemeinde betrieben – doch ohne Erfolg. 1939 wird für Merry ein Fremdenpass ausgestellt und vom Vormundschaftsgericht bestätigt, dass gegen eine Auswanderung des Kindes keine Bedenken bestünden. Aber wohin, zu wem? Merry ist „staatenlos“, rechtlos, ohne Familie, der Willkür der NS-Stellen ausgeliefert.

 

Die einzige Verwandte in München, Tante Paula Gaber, wird mit der ersten Deportation von München am 20. November 1941 nach Kaunas deportiert und dort am 25. November ermordet. Merrys beste Freundin Ilse Bock teilt mit ihren Eltern, Hilde und Ernst Bock, das gleiche Schicksal, mit ihnen auch 20 Kinder und vier Betreuerinnen aus dem Antonienheim.

 

Am 4. April 1942 fährt aus Milbertshofen der zweite Deportationszug nach Piaski im Distrikt Lublin ab, darunter 22 Kinder aus dem Heim. Das Antonienheim wird nun „liquidiert“ und Merry muss am 11. April 1942 zusammen mit den verbliebenen 13 Kindern in die so genannte „Judensiedlung Milbertshofen“, das Sammel- und Deportationslager in der Knorrstraße 148, in die Baracke Nr. V übersiedeln. Im Juli 1942 wird auch das Barackenlager aufgelöst und die letzten Kinder werden in der so genannten „Heimanlage für Juden“, in einem Trakt des Klosters der Barmherzigen Schwestern in Berg am Laim untergebracht.

 

Am 13. März 1943 wird Merry zusammen mit sechs anderen Kindern und der Heimleitung Alice Bendix und Henriette Jacobi vom Münchner Hauptbahnhof aus nach Auschwitz deportiert und dort – das ist verbürgt – unmittelbar nach der Ankunft ermordet. Merry ist zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre, das jüngste Kind in dieser Gruppe, Judis Weissblüth, drei Jahre alt.

 

Erst jetzt wissen wir, dass Merry Gabers Mutter am 4. Juli 1934 auf der SS. Manhattan von Hamburg nach New York emigrierte, ihr letzter Wohnsitz war Karlsruhe gewesen. 1940 lebte sie in der Bronx, im Haushalt ihrer Schwester Frieda Knappe.

 

Merrys Cousin Alfred Gaber, der in München am 4. Februar 1922 geborene jüngere Sohn von Tante Paula, konnte mit einen Kindertransport nach England flüchten. Er hat im März 2015 für seine Mutter Paula Gaber ein Gedenkblatt in Yad Vashem erstellt und lebt in einem Altersheim in Toronto in Kanada. Er ist jetzt 94 Jahre alt.

 

Ilse Macek