Ilse Liselotte Nussbaum

 Ilse Liselotte Nussbaum kommt am 21. September 1927 in Halle in Sachsen als einziges Kind von Leopold und Olga Nussbaum zur Welt.

 

Leopold Nussbaum stammt aus Jeßnitz, Kreis Dessau, Anhalt, und ist am 19. Mai 1897 geboren. Die drei älteren Geschwister von Leopold sind alle noch in Kempen, Provinz Posen (heute Kepno, Polen) geboren, Julius am 15. März 1885, Isidor am 16. Juni 1887, er lebt später in Göttingen, Elsie am 28. Juni 1889. Deren Eltern sind Salomon (Saul), Jahrgang 1857, und Ernestine Nussbaum, geborene Joseph, Jahrgang 1856, die 1931 in Dessau stirbt. Ihr Grabstein aus schwarzem Marmor steht auf dem Dessauer Friedhof, die zweite Grabinschrift ist leer. Sie konnte mit ihrem Ehemann noch zwei Jahre vor ihrem Tod die Goldene Hochzeit feiern. Salomon Nussbaum war langjähriges Mitglied der Dessauer Beerdigungsgesellschaft (Chewra kadischa) und Mitglied der jüdischen B'nai B'rith Loge Anhalt. Das Ehepaar war in den 1890-er Jahren von Jeßnitz nach Dessau gezogen. Über das Lebensende von Salomon Nussbaum ist nichts bekannt.

 

Mit 25 Jahren, am 21. November 1922, heiratet Leopold die 23-jährige Münchnerin Olga Gundersheimer, die am 19. März 1899 zur Welt kam. Olga zieht nach Halle um und lebt mit ihrem Ehemann Leopold Nussbaum in einer Wohnung in der Bernhardystraße 56. Sie betreiben eine Großhandlung für Friseurartikel. Olga hat die Kaufmännische Handelsschule besucht und als Schneiderin gearbeitet, später ist sie als Kontoristin tätig. Ihre Eltern sind der Kaufmann Moses Moritz und seine Frau Anna Esther Hinde Gundersheimer, geborene Hurwitz. Moses Gundersheimer, genannt Moritz, der Großvater von Ilse Liselotte Nussbaum, war 1863 in Groß-Kotzenburg, einem Dorf im damals preußischen Regierungsbezirk Kassel, geboren; sein Vater, Pinchas Löb Gundersheimer, war Lehrer in Frankfurt am Main. Moritz ist bereits 1885 nach München gezogen. Seine Frau Anna Esther stammt aus Kaunas (Kovno) in Litauen und war dort 1870 geboren; sie hatte Moritz Gundersheimer am 21. Februar 1894 in Nürnberg geheiratet. Anna Esther stammt aus einer schon zwei Jahrhunderte in Kaunas ansässigen Familie. Ihr Vater, Bernhard Lippmann Hurwitz, war mit seiner Frau Sara, geborene Segal, und sieben Kindern von Litauen ausgewandert und 1921 in Dresden verstorben.

 

Olga Nussbaum ist das dritte Kind des Ehepaars Gundersheimer. Im Dezember 1894 kommt das erste Kind zur Welt, Else Lisette, benannt nach der Mutter von Moritz, Lisette Gundersheim, geborene Schülein. Else Lisette stirbt bereits als Baby. Fünf weitere Kinder folgen. Paul Leo wird 1896, Charlotte 1897, Olga, Ilses Mutter, 1899, Ella 1901 und Max 1906 geboren, alle in München. Charlotte stirbt als Vierzehnjährige 1912 durch einen Unfall; sie wird von der Straßenbahn überfahren.

 

Am 25. April 1938 wird Olgas Mann, Ilses Vater Leopold Nussbaum, zusammen mit 13 anderen jüdischen Hallensern verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert, wo er am 14. Mai, knapp drei Wochen später, im Alter von 40 Jahren zu Tode kommt. Vom Konzentrationslager Buchenwald wird lapidar vermeldet, er sei „… im Revier verstorben“. In dieser Phase war Buchenwald noch im Ausbau begriffen, es gab Schachtkommandos und Schwerstarbeit im Steinbruch und Juden standen in der Lagerhierarchie an unterster Stelle. Die Umstände seines Todes werden nie geklärt.

 

Nach dem Erhalt der Todesnachricht zieht Olga Nussbaum mit der 10-jährigen Ilse Liselotte (Ilselotte) am 1. Juli 1938 nach München in das Haus ihrer Eltern in der Herzogstraße 65, wo die Familie Gundersheimer seit 1912 wohnt und Olga ab dem 12. Lebensjahr ihre Jugendzeit verbracht hat. Die Großeltern von Ilselotte, Anna Esther und Moritz Gundersheimer leben im Erdgeschoß. Paul Gundersheimer bewohnt seit 1922 eine Wohnung im 4. Stock; bei ihm sind Olga und Ilse gemeldet. Das vierstöckige Mietshaus ist Eigentum von Moritz Gundersheimer, dem Großvater von Ilselotte.

 

Moritz Gundersheimer ist schon seit Jahren psychisch krank. Bereits im September 1930 wurde er in der Psychiatrischen Klinik der Universität behandelt; ab Februar 1932 war er wegen einer psychiatrischen Erkrankung im Schwabinger Krankenhaus. Von dort aus war er im Juni 1932 nach Eglfing-Haar verlegt und vom Amtsgericht entmündigt worden; der Vormund ist Dr. Albert Oppenheimer.

 

Max und Paul Gundersheimer, seine Söhne, übernehmen 1935 seinen Betrieb, die „Moritz Gundersheimer oHG“, ein Großhandel mit Kolonial-, Spezerei- und Zuckerwaren, in der Schwabinger Franz-Joseph-Straße 35. Paul war als Reisender für den Vater tätig gewesen. 1938 wird ihm die Wiederausstellung der Gewerbelegitimationskarte verweigert mit der – gegenüber jüdischen Münchnern ständig behaupteten – allgemeinen „Unzuverlässigkeit“. Paul habe sich in einer verächtlich machenden Art und Weise gegenüber den Maßnahmen der nationalen Regierung und den wirtschaftlichen Verhältnisse geäußert; auch der Bruder Max Gundersheimer sei an dieser Handlung beteiligt gewesen. „wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit“ werden sie festgenommen. Bald stellt sich heraus, dass das zum Anlass genommene Gespräch bereits 1934 stattgefunden hat. Gegen Max Gundersheimer wird auch wegen angeblich versuchter „Rassenschande“ ermittelt. Paul verweist darauf, dass er Frontkämpfer mit drei Kriegsauszeichnungen sei. Es hilft nichts; mit Wirkung zum 1. Oktober müssen die Brüder Gundersheimer ihre Firma abmelden.

 

Paul Gundersheimer, wandert mit seiner Frau Herta Rosenberg und dem Sohn Heinrich im September 1938 in die USA aus. Bald nach der Ankunft zieht die Familie nach Boston.

 

Auch Olga Nussbaum hat Auswanderungspläne, jedenfalls für ihre Tochter Ilse Liselotte. Im Antrag zur Erteilung so genannter „jüdischer“ Vornamen erbittet Olga Nussbaum von München aus am 31. Dezember 1938 beim Standesamt Halle eine Geburtsurkunde. Sie ersucht um möglichst umgehende Bearbeitung wegen der geplanten Ausreise ihrer Tochter, damit diese zügig beantragt werden könne.

 

Am 30. Januar 1939 stirbt Ilses Großvater Moritz Gundersheimer im Alter von 75 Jahren unter ungeklärten Umständen in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar.

 

Im Dezember 1939 emigriert der jüngste Onkel von Ilse, Max Gundersheimer, über die Philippinen nach USA, später lebt er dann in New York.

 

Im Mai 1940 wird Walter Geismar mit seinen Eltern in das inzwischen zum „Judenhaus“ deklarierte Anwesen an der Herzogstraße 65 in den 4. Stock eingewiesen, wo auch Ilse Nussbaum mit ihrer Mutter wohnt. Die Jugendliebe zwischen der 13-jährigen Ilse und dem 17-jährigen Walter beginnt.

 

Ilses Tante Ella, geboren am 26. März 1901, verheiratet mit dem 1899 geborenen Anwalt, Dr. Fritz Silber (später Fred Silver) emigriert im Juni 1941 nach Massachusetts.

 

 

 

Olga und Ilse Nussbaum werden am 15. Januar 1942 im Sammellager in Berg am Laim in der Clemens-August-Straße 9 interniert. Die 14-jährige Ilselotte Nussbaum wird im Mai 1942 zur Zwangsarbeit in der Flachsröste Lohhof verpflichtet. Ilses Großmutter, Anna Esther Gundersheimer, wird am 10. Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt.

 

Die Brüder des Vaters von Ilse, Julius und Isidor, werden Opfer der Shoah. Isidor, verheiratet mit Alma Feld wird im März 1942 zusammen mit seiner Frau ins Warschauer Ghetto deportiert und dort ermordet. Die Schwester Elsie kann nach Palästina flüchten; sie hat eine Tochter (Shulamit Gottlieb).

 

 

 

Am 13. März 1943 werden Ilse Liselotte und ihre Mutter Olga Nussbaum zusammen mit jüdischen Münchnerinnen und Münchnern nach Auschwitz deportiert. Von dort schreibt Ilse am 15. Juni 1943 1943 noch eine Karte an ihren Freund Walter Geismar in München, Lindwurmstraße 125:

 

Mein lieber Walter!
Ich bin gesund. Mir geht es gut. Bin mit Mutti beisammen. Bleibe tapfer. Auch ich
lasse mich nicht unterkriegen! Vergiss mich nicht und schreibe sofort. Mutti lässt
Dich und Deine lieben Eltern grüssen. Ich grüsse Dich innig und küsse Dich innig
und Deine lieben Eltern!
In alter Liebe
Deine Ilse-Kochani“

 

Kochani ist polnisch und heißt „lieb“, Liebling. Das ist das letzte Lebenszeichen von Ilse und Olga Nussbaum und Walter Geismar weiß nun, dass sie in Polen sind. Ilse wird ihren 16. Geburtstag nicht mehr erleben; ihre Mutter Olga ist am 19. März 1943 in Auschwitz noch 44 Jahre alt geworden.

 

Anna Esther Gundersheimer, Ilses Großmutter, überlebt Theresienstadt. Sie gelangt im Februar 1945 mit einem Austauschtransport in die Schweiz. Von dort emigriert sie und verbringt ihre letzten Jahre bei Tochter Ella Silver in Roxbury, Boston, Massachusetts, und stirbt im Mai 1960 im 90. Lebensjahr.

 

Paul Gundersheimer (Paul Gunders), der in erster Ehe mit Rosa Cheikowsky verheiratet war, die nach drei Ehejahren verstarb, hatte 1927 die zweite Ehe mit Herta Rosenberg aus Halle, Jahrgang 1899, geschlossen. Paul stirbt im März 1975 in Brighton, Massachusetts mit 79 Jahren. Dort stirbt auch seine Frau Herta im Juni 1988 im Alter von 89 Jahren. Max Gundersheimer (Max Gunders), verheiratet mit Ruth, geborene Heymann, Jahrgang 1912, stirbt im Alter von 73 Jahren Januar 1979 in Queens, New York. Seine Frau Ruth, geborene Heymann, Jahrgang 1912 stirbt mit 80 Jahren im Juni 1991. Sowohl Paul als auch Max Gunders haben Nachkommen.
Fred Silver, der Ehemann von Ella, stirbt 1981 im Alter von 82 Jahren am 23. August 1981 bei einem Besuch in seiner ehemaligen Heimat, kurz nachdem er in München gelandet war. Beerdigt ist er auf dem Zviller Cemetery in West Roxbury, Boston, Massachusetts. Ella Silver stirbt am 7. März 2001 in Oak Ridge, Tennessee, kurz vor ihrem 100. Geburtstag. Das Ehepaar hat drei Kinder, die Erstgeborenen sind die Zwillinge Walter Eric und Kurt Manfred.

 

Walter Geismar, am 22. März 1923 in Schrobenhausen geboren, der nach dem Krieg in Australien lebte und seine Jugendfreundin Ilse und den Abschied von ihr am Tag, als sie nach Auschwitz deportiert wurde, nie vergessen hatte, starb am 6. Juli 2015 im Alter von 92 Jahren.

 

Das Grab von Moses Moritz Gundersheimer, befindet sich auf dem Neuen Israelitischen Friedhof. Auf dem Stein ist auch eine Inschrift zum Gedenken an Ilselotte und ihre Mutter Olga Nussbaum.

 

Ilse Macek