Ein Brief von Marie Luise Kohn

Marie Luise Kohn führt seit seiner Emigration 1935 nach Palästina mit dem Münchner Religionswissenschaftler, Journalisten und Dichter Schalom Ben Chorin einen regen Briefwechsel.

 

Ihren letzten Brief an Ben Chorin schreibt Marie Luise Kohn am 13. Juni 1939:

„Lieber Beni!
Gerade kommt Deine Karte und macht mir klar wie lange ich schon schreiben wollte, und wie es doch nicht dazu kam. Du musst verstehen und Dir vorstellen, welche Menge von Auslandsschreiberei man ständig hat. Meist ganz fruchtlose Versuche, eine Flut von Fragebogen, fast immer negative Antworten. Auch hat man manchmal Angst, dass die eigene Stimmung zu sehr abfärben könnte und zum „Abreagieren“ habe ich noch nie an Freunde geschrieben, hoffe auch es wird dazu nicht kommen.

 

Immerhin betet für meine arme Seele, auch wenn ich nicht schreibe. Diese Fortsetzung wäre schon eine Woche später zu datieren.

 

Natürlich habe ich Deinen Brief, wenn auch erst erstaunt, an die Adresse geschrieben, die Du vorgeschrieben hast. Mit Bedauern, das muss ich sagen und nicht ohne darüber zu meditieren, ob die goldigen Bilder von Tobias in die rechten Hände kämen. Besonders das, wo er so klein in dem großen Mäntelchen steht, finde ich ganz niedlich. Und eigentlich aus einer anderen Welt trotzdem. Mir wird es schwer das zu erklären. Die Buchanzeige hat mich sehr interessiert und ich freue mich auf diese Weise wieder von Deiner Arbeit zu hören. Ich bin sehr neugierig darauf. Aber wieder aus einer ganz anderen Welt heraus ist Deine Bemerkung ich solle in unserem Kreis dafür werben.

 

So etwas gibt es nicht mehr. Alle, aber auch alle unsere wirklichen Freunde sind weg. Auch alle die guten Bekannten, denen man etwas zu sagen hatte oder die einem was zu sagen hatten. Was es hier noch gibt sind wahre Überbleibsel. Und was man hier im Kopf hat, und was man hier redet – hoffnungslos. Luigi ist in England, Du wirst das längst wissen, dieser Tage fährt Dr. Cahnmann nach England. Das waren von den für solche Themen interessierten Leute wohl die Letzten. Das ist eine nicht leichte Sache. Ich habe seit einem Jahr nicht mehr gemalt. Nur Kunstgewerbe gemacht. Metalltreiben gelernt, überhaupt kunstgewerbliche Metallverarbeitung jeder Art. Ich finde das doch sehr nützlich. Ich kann jetzt Schalen, Aschenbecher, Broschen, und dergleichen machen, auch einfache Arten von Stein fassen. Was nun wird, weiß niemand.

 

Ich bedaure wirklich, dass wir gar so lange gehofft haben doch noch einen Weg nach Palästina zu finden. Wir haben viel wichtige Zeit darüber ungenützt verstreichen lassen. Nun bleibt mir nur noch der Weg, als Dienstmädchen nach England. Wir haben uns dazu lange nicht entschlossen. Schließlich ist das für mich noch alles besser zu machen wie für Liesl. Aber wenn es geht, sind wir ganz einverstanden.

 

Wüsstest Du Adressen in England, die behilflich sein könnten? Es handelt sich jetzt darum für uns Stellungen zu finden, bei Engländern. Was ist eigentlich aus Harry Ongewarden? Diese tragische Geschichte seines Bruders ist hier allen sehr nahegegangen. Um das Grab Deiner Eltern brauchst Du Dich nicht zu sorgen. Ich war erst vor ein paar Tagen auf dem Friedhof, und war auch dorthin gegangen, und fand alles gut in Stand. Recht sauber gepflegt. Das ist im Neuen Friedhof überhaupt sehr ordentlich. Die Pflanzen sind ja dauerhaft und kommen jedes Jahr wieder. Das Blattmoos ist frisch gesetzt. Von Ernst hörte ich seit Anfang November nicht mehr ein Wort. Ich verlor allerdings seine Adresse und dankte deshalb für die Karte nicht. Ich hätte es nicht erschütternd gefunden, wenn er nochmal ein paar Zeilen riskiert hätte. Er ist merkwürdigerweise, der einzige Mensch, den ich ganz verloren habe. Hoffentlich geht es ihm nicht zu dreckig.

 

Wir freuen uns sehr auf Dein Buch. Bitte schicke gleich, wenn Du kannst. Und von Kriegsheil ist noch keine Rede, wenn man auch manchmal schlecht gelaunt und furchtbar davon ist.

 

Grüsse Euch alle, auch von Lieserl, immer herzliche.
Eure Ali“